Es ist ein wilder Ritt, den Marktteilnehmer dieses Jahr erleben – darin sind sich alle Teilnehmer des Top-50-Roundtables, der Ende Juni zur Asset-Allokation stattfand, einig. Hohe Inflation, steigende Zinsen, Ukraine-Krieg und China-Lockdowns lasteten im ersten Halbjahr auf den Märkten. In US-Dollar waren sowohl der S&P 500 als auch der Nasdaq nach sechs Monaten in einem Bärenmarkt. Und auch das zweite Halbjahr könnte ungemütlich werden. Schließlich bleiben viele Störfaktoren bestehen.
Dementsprechend vorsichtig fällt die Halbzeitbilanz der Vermögensverwalter aus, die am Roundtable teilnehmen. Kai Heinrich, Vorstand der Plutos Vermögensverwaltung meint, dass er und seine Kunden „bisher noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen“ seien. Peer Otten, geschäftsführender Gesellschafter des Auretas Family Trust, erklärt, dass das „Thema Cash in Fremdwährungen“ zur Beruhigung des Portfolios und der Anleger beigetragen habe. Andreas Schmidt, Leiter Portfoliomanagement beim Family Office Focam, weist darauf hin, dass er zum Jahresanfang den Anteil von Value- und Dividendentiteln glücklicherweise deutlich erhöht hatte: „Das war unser Beitrag zur Volatilitätsreduzierung.“
Volatilität wird auch die zweite Jahreshälfte bestimmen – was ja nicht unbedingt immer schlecht sein muss. „Grundsätzlich kommt uns eine gewisse Volatilität an den Märkten schon entgegen, denn wir handeln ja antizyklisch“, erklärt zum Beispiel Ulrich Zorn, Gesellschafter und Partner der CRS Beratungsgesellschaft. Um Emotionen aus dem Anlageverhalten zu nehmen, setzt er auf einen festgelegten Prozess. Jedes Jahr definiert seine Gesellschaft für Aktien, Renten und andere Märkte sogenannte „Jahreskanäle“. Um diese Kanäle festzulegen, orientiert sich die CSR an den Prognosen der großen Investment-Häuser sowie eigenen Berechnungen. Anhand dieser Kanäle werden Positionen dann auf- oder abgebaut. Fällt zum Beispiel der Dax in Richtung der Unterseite des Kanals, kauft die CSR dazu. Nähert er sich der Oberseite, wird die Position dagegen verkleinert.
Der eine oder andere kann der Volatilität also durchaus gute Seiten abgewinnen. Schließlich ergeben sich durch die gefallenen Kurse auch Einstiegsgelegenheiten. Plutos-Chef Kai Heinrich findet zum Beispiel Telekommunikations- und Versorger-Aktien interessant und sucht ganz allgemein in Branchen, „die einen gewissen Preis-Festsetzungs-Spielraum haben“. „Generell kommen wir zu Bewertungs-Niveaus, wo man zumindest mal den Zeh vielleicht ins Wasser stecken kann.“
Dem pflichtet Auretas-Gesellschafter Otten bei: „Es bieten sich langsam Chancen in verschiedenen Ecken. Aber man muss auch schauen: Wo sind wirklich überzeugende Geschäftsmodelle? Wie schnell können sie sich auf die aktuellen, dynamischen Veränderungen einstellen?“ Das Kurs-Gewinn-Verhältnis reicht als Entscheidungskriterium aber nicht aus: „Man muss schon ein bisschen tiefer einsteigen.“
Sucht man nach den Ursachen für die teils extremen Schwankungen, werden gerne wirtschaftliche und geopolitische Rahmenbedingungen angeführt. Andreas Schmidt von der Focam sieht aber auch marktinterne Einflussfaktoren: „Die hohe Volatilität ist in meinen Augen teilweise auch hausgemacht. Das sind ja nicht langfristig orientierte Anleger, die die Preise nach unten und nach oben jubeln, sondern Finanzjongleure, die ein hohes Interesse daran haben, weil sie pfadabhängig sind und dementsprechend programmiert sind.“ Mit Fundamentaldaten der Unternehmen lassen sich die extremen Schwankungen in diesem Jahr oft nicht erklären: „Wenn Titel wie Apple an einem Tag sieben oder acht Prozent fallen, dann fragst du dich: ‚Was geht denn hier ab‘?“
Als die russische Armee Ende Februar in die Ukraine einmarschierte, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz eine viel beachtete Rede, in der er von einer Zeitenwende sprach. Gibt es die nicht nur in der deutschen Politik, sondern auch in der Geldanlage?
„Zeitenwende? Sicher, klar: Wenn du acht oder neun Jahre nur fallende Zinsen hattest und auf einmal hast du steigende Zinsen, dann kann man erst mal von einer Zeitenwende sprechen“, sagt Andreas Schmidt von Focam. Aber er fordert auch etwas Realismus ein: „Es wäre ja zu schön, um wahr zu sein, wenn die Zinsen immer nur fallen.“ Vielleicht könnte man die gegenwärtige Gemengelage am Markt auch etwas weniger dramatisieren, sondern als ganz normale Korrektur sehen.
Peer Otten vom Auretas Family Trust sieht zwar eine Zeitenwende im Hinblick auf das Zinsumfeld, die vertrauten Marktgesetze haben aber nach wie vor Bestand. Es sei ja nicht so, dass „sich die Märkte auf einmal komplett anders bewegen würden“, meint er. Im Gegenteil: Im Grunde genommen bleibt alles beim Alten. Wenn die Zinsen steigen, müssen die Aktienkurse fallen. „Das ist jetzt nichts, bei dem man sagt: ‚Wir haben jetzt hier komplette Marktgesetze ausgehebelt und bewegen uns in einem neuen Umfeld, in dem wir als Vermögensverwalter uns komplett neu sortieren müssen.‘“
Kai Heinrich von der Plutos Vermögensverwaltung spinnt diesen Gedanken weiter: „Ich würde sogar umgekehrt einen Schuh draus machen: Nicht jetzt, sondern in den vergangenen Jahren wurden die Marktgesetze ausgehebelt. Deswegen haben wir diesen hohen Anstieg bei den Aktienindizes gesehen. Und wir sind jetzt in der Situation, dass wir in eine Normalisierung reinkommen.“ Insofern sind nicht die Wackelbörsen in diesem Jahr ungewöhnlich, sondern die Niedrigzins-Umgebung, die die Zentralbanken nach der globalen Finanzkrise geschaffen hatten. „Ich glaube, dass viele Marktteilnehmer – und wir auch – jetzt mit etwas klarkommen werden, was wir lange nicht mehr gewohnt waren: Dass es einen Zins gibt und dass Risiko bepreist wird“, meint er. Und das ist langfristig doch nur sinnvoll und vernünftig, oder?
Hohe Inflation, hohe Ölpreise, geopolitische Unsicherheit: Der eine oder andere Marktkommentator fühlt sich bei solchen Stichworten in die 1970er Jahre zurückversetzt, als die Volkswirtschaften in den Vereinigten Staaten und Europa mit Stagflation zu kämpfen hatten. Auch die Top-50-Vermögensverwalter-Runde setzt sich mit diesem historischen Vergleich auseinander.
So sieht Andreas Schmidt von der Focam die Federal Reserve in einer ähnlichen Rolle wie die Bundesbank in den 1970er Jahren: Sie versucht, die Inflation mit der Zinspolitik zu bekämpfen, und geht dabei wesentlich rabiater als andere Zentralbanken vor. Das ist zwar schmerzhaft, aber auch notwendig. Es gibt auch Unterschiede. Zum Beispiel ist die Weltwirtschaft heute wesentlich stärker verflechtet als vor fünfzig Jahren: „Die Globalisierung der Wirtschaft sorgt natürlich auch für eine gewisse Risikostreuung. Und ein ganz wichtiger Punkt: Früher agierten vor allem Nationalstaaten. Heute sprechen sich die Staaten wesentlich stärker miteinander ab: über die G7, aber auch bei den Notenbanken oder den Finanzministern.“
Auch Ulrich Zorn von der CSR Vermögensverwaltung ist der Ansicht, dass der historische Vergleich nur teilweise passt: „In die 70er sind wir in Deutschland ja mit Vollbeschäftigung gestartet. Jetzt haben wir Fachkräftemangel, aber keine Vollbeschäftigung. Auch die Digitalisierung steht heute an einem komplett anderen Punkt als damals. Inwiefern dieses Mal eine Lohn-Preis-Spirale greifen wird? Das bleibt abzuwarten.“
Für Kai Heinrich machen vor allem die Globalisierung mit ihren Just-In-Time-Lieferketten, aber auch das jahrelange Niedrigzinsumfeld den Unterschied. Ob die Notenbanken jetzt tatsächlich ernst machen mit der Erhöhung der Zinsen, bleibe abzuwarten: „Ich würde mal so formulieren: Allein der Glaube fehlt mir, dass das tatsächlich ernst gemeint ist. Keiner der Staaten kann es sich leisten, dass die Inflation wirklich bekämpft wird.“ Letztendlich hält er es mit einem Spruch, der gerne Mark Twain zugeschrieben wird: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“
Für Vermögensverwalter stellt sich in diesem Umfeld natürlich die Frage: Welche Konsequenzen hat die Gemengelage für meine Portfolioaufstellung? Peer Otten plädiert dafür, sich gar nicht erst am Market Timing zu versuchen: „Man braucht eine grundsolide strategische Ausrichtung. Man muss eine mittelfristige Strategie definieren, ganz klar mit dem Bewusstsein: ‚Welche Risiken stecken da drin, und kann ich diese Risiken auch aushalten? Bekomme ich jetzt genau in diesen Tagen das geliefert, was ich mir ursprünglich vorgestellt habe? Halte ich damit auch durch? Weil ich nur mit diesem Bewusstsein mittelfristig auch zum Ziel kommen kann…‘“
Schlussendlich ist Geldanlage ja auch eine Frage der Einstellung und der adäquaten Sichtweise, meint auch Kai Heinrich von Plutos: „Die Leute kämen nie auf die Idee, sich jeden Tag einen Preis für ihr Haus geben zu lassen, der mit Sicherheit auch schwanken würde. Aber wenn man die Coca-Cola-Aktie im Portfolio hat und die geht zehn Prozent runter, denkst du: ‚Ach, verdammt, zehn Prozent! Das Geld ist weg!‘ Dass das Unternehmen bisher noch jede Krise überstanden hat, wird dann ausgeblendet.“
Den Kunden in solchen Phasen beiseite zu stehen und vor Kurzschlussreaktionen zu schützen, ist schließlich die ureigenste Aufgabe von unabhängigen Vermögensverwaltern. Das meint auch Ulrich Zorn: „Bei Verlusten durchzuhalten, ist immer ein schwieriges Thema, weil es sehr emotional ist. Wenn man im Vorfeld über mögliche Verluste spricht, fühlt sich das nochmal ganz anders an, wenn die Situation wirklich eintrifft. Aber ich denke, da ist man als Vermögensverwalter auch gefragt, vom Start weg zu begleiten und mit dem Kunden zusammen die richtigen Weichen zu stellen.“